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  • 25 Jahre Karfreitagsabkommen

Nicht in Feierstimmung

Nordirland begeht den Jahrestag des historischen Friedensschlusses in politisch festgefahrener Situation

  • Dieter Reinisch, Belfast
  • Lesedauer: 4 Min.

Am kommenden Dienstag stattet US-Präsident Joe Biden Nordirland einen Kurzbesuch ab. Die Visite zum 25. Jahrestag des Karfeiertagsabkommens war lange geheim gehalten worden. Dass Biden im Regionalparlament Stormont sprechen kann, ist sehr unwahrscheinlich.

Bereits seit Februar 2022 tagt das Parlament im Osten von Belfast nicht mehr, weil die pro-britische Democratic Unionist Party (DUP) die Arbeit boykottiert. Anfänglich behauptete sie, damit gegen die Sonderbehandlung Nordirlands nach dem Brexit zu protestieren. Doch das ist ein Vorwand, um die republikanische Partei Sinn Féin (SF) von der Macht fernzuhalten. Die DUP untergräbt so das Karfreitagsabkommen.

Das Abkommen, das am 10. April 1998 unterzeichnet wurde, beendete den Nordirlandkonflikt, der seit 1968 mehr als 3500 Menschenleben gekostet hatte. Es brachte zwar ein Ende der Kampfhandlungen, aber etablierte eine politisch nicht wirklich funktionierende Konkordanzdemokratie. Die beiden stimmenstärksten Parteien der beiden größten Bevölkerungsgruppen sollen in eine Koalition gezwungen werden – eine andere Regierungsbildung ist nicht erlaubt.

Seit den Regionalwahlen im Mai 2022 ist SF erstmals in der Geschichte Nordirlands die stärkste Partei. Die Provinz hätte daher mit Michelle O’Neill eine katholisch-nationalistische Regierungschefin bekommen müssen. »Die DUP will nicht die zweite Geige spielen«, meint gegenüber »nd« Aaron Edwards. Der Nordire forscht an der Universität Leicester zu den protestantischen Unionisten und verfasst Bücher zum Thema. Ähnlich sieht das der Politikwissenschaftler Connal Parr von der Universität Northumbria in Newcastle: »Sie wollen nicht in die Verantwortung, wenn SF die größere Partei ist.«

Hoffnungen von Brüssel und London, die DUP durch einen Deal zur Rückkehr nach Stormont zu bewegen, zerschlugen sich rasch, obwohl das jüngst beschlossene Windsor-Rahmenprogramm zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU vieles für Nordirland vereinfacht und die meisten Zollkontrollen zwischen Großbritannien und der Provinz wegfallen.

»Windsor«, erläutert Historiker Edwards die Sichtweise der DUP, »beeinträchtigt immer noch den britischen Binnenmarkt«, auch wenn es sich um eine weitgehende Aufweichung des Nordirland-Protokolls zum Brexit-Austrittsabkommens mit der EU handele. Das Abkommen garantiere nicht auf Dauer den Platz Nordirlands im Vereinigten Königreich, daher seien die Unionisten dagegen. Im Zentrum ihrer Argumentation stehe stets die britische Souveränität.

Stormont wird also auch in der kommenden Woche nicht tagen und die Einberufung einer Sondersitzung zum Zweck der Rede eines ausländischen Staatsgastes ist in der Parlamentsordnung nicht vorgesehen. Präsident Biden wird seine vorgesehene Rede wohl an einem anderen Ort halten müssen. Das genaue Programm wird noch unter Verschluss gehalten.

Die politische Krise in Nordirland sei seit dem Karfreitagsabkommen nie überwunden worden, betont der in Belfast lebende Autor und republikanische Aktivist Liam Ó Ruairc: »Seit 1998 hat Stormont über ein Drittel der Zeit nicht getagt, weil die Arbeit aufgrund politischer Krisen und Streitigkeiten suspendiert war.« Die Provinz wurde in diesen Phasen direkt aus London regiert.

Parr erwartet keine rasche Einigung: »Als es das erste Mal scheiterte, dauerte es von 2002 bis 2007 fast fünf Jahre, bis das Parlament wieder eingesetzt wurde.« Ein Grund für die festgefahrene Situation seien die Anfang Mai anstehenden Kommunalwahlen: »Die harte Haltung der DUP macht aus ihrer Sicht Sinn, denn dadurch kann sie wieder Stimmen von der TUV zurückgewinnen.« Die Traditional Unionist Voice (TUV) ist eine rechtspopulistische Kleinpartei, die gegen jeden Kompromiss mit London, Brüssel, Dublin und den nordirischen Katholiken agitiert. Bei den Wahlen zum Regionalparlament im Mai des vergangenen Jahres konnte TUV auf Kosten der DUP zulegen.

Eine langfristig tragbare Lösung ist nicht in Sicht. Denn der im September 2021 veröffentlichte Zensus zeigte: Die Katholiken sind mittlerweile die größere Bevölkerungsgruppe und das wird sich nicht mehr umkehren. Laut Berechnungen des Politikwissenschaftlers Brendan O’Leary von der Universität Pennsylvania werden sie spätestens 2030 in allen Altersgruppen die Mehrheit stellen. »Nordirlands neue Realität ist: Sinn Féin ist die dominante Partei«, bestätigt Edwards. Er sieht nicht, dass die DUP eine Antwort auf dieses Problem hat. »Viele Protestanten gehen nicht mehr zur Wahl. DUP fehlen Konzepte, mehr Wähler zu mobilisieren.«

Die politische Sackgasse behindert auch Lösungen für die soziale Krise, betont Ó Ruairc: »Die Region ist arm. Ihr Pro-Kopf-Einkommen liegt 25 Prozent unter dem in Großbritannien.« Nordirlands Produktivität ist die niedrigste aller Teile des Vereinigten Königreichs, jeder Fünfte der 1,9 Millionen Einwohner leidet unter Armut. Nordirland brauche einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel, schätzt Historiker Edwards ein. Das Karfreitagsabkommen habe zwar die großen politischen Kontrahenten dazu verpflichtet, zusammen zu regieren, »die Bevölkerungsgruppen aber leben weiter separiert.«

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